Die Boulevard wurde als Handsatz-Bleigussschrift von Günter Gerhard Lange (1921-2008), abgekürzt G.G.L., entworfen und 1954 von der H. Berthold AG erstmals gegossen (die den freiberuflich tätigen G.G.L. vermutlich damit beauftragt hat).

 

G.G.L. war erstmals im WiSe 52/53 zunächst als freiberufliche Lehrkraft, ab 1959 bis 1960, wo er als Festangestellter zu Berthold wechselte, als angestellter Dozent an der Meisterschule für Graphik und Buchgewerbe Berlin im Lehrfach Typographik tätig (Archiv der UdK, gesichtet von Anne König). In der Zeit wird dann vermutlich unsere Boulevard von seiner späteren Firma Berthold AG auf seine Initiative hin beschafft worden sein.

 

Ab 1960 war G.G.L. künstlerischer Leiter der Berthold AG. Die Berthold AG zog 1965 von Berlin nach München, G.G.L. wirkte ab da dann als berühmter Typograph und Designer in München.

Es gibt ein langes Interview mit G.G.L. in der nur ihm gewidmeten Ausgabe 2/2003 der „Typografische Monatszeitschrift“. Hier ein paar Zitate, die man zur Boulevard darin finden kann:

"YSS: Hier schau, Deine sehr freie Champion von 1958. Mit Tempo und viel Schwung drängt sie nach vorne. Keineswegs pingelig und sehr vital im Vergleich zu den Schriften von Herbert Post - einem wichtigen Berthold-Schriftdesigner. Den hast Du schon vorgefunden. Deine Boulevard hingegen ist viel kalligrafischer. Auch der Walbaum nimmst Du durch die rot-schwarze alphabetische Darstellung das Betuliche.

GGL: Prinzipiell muss ich festhalten: Als künstlerischer Leiter muss man mit einem vorgefundenen Fundus nicht nur leben, sondern auch versuchen, das Erscheinungsbild einer Schrift so gut wie möglich vorzustellen. Persönliche Vorlieben sind dieser Aufgabe unterzuordnen. Die Boulevard ist als zeitgerechtes Äquivalent für die im Krieg vernichteten englischen Schreibschriften entstanden. Wir wollten aber keine klassische englische Schreibschrift, die sind zu empfindlich, brechen leicht aus, sind zu teuer, sondern eine Schrift ohne Überhänge und kalanderfest. Auf dem rechtwinkligen Gusskegel sollte alles untergebracht sein, ohne dass der Eindruck entstand, das Ding sei kastriert worden, wie etwa bei Martin Wilkes die Ariston, mit den zu kurzen Unterlängen. Das ist mir bei der Boulevard ohne optische Beeinträchtigung gelungen. Reine werktechnische Kläubelei und ein wenig Erfindungsreichtum“ (S. 19).

An anderer Stelle diskutiert er einen Entwurf: „Und das schwungvolle F in diesem Titel ist eine Vorwegnahme der Boulevard, ein kalligrafischer Geck, um das ganze formal herauszuheben. Und auch, weil die damals bei Form + Technik, um den Kreis von Karl Franke, nach dem Krieg so kleinfieseliges, sehr privates Zeug machten: mit englischen Linien, Ouadraten und vorzugsweise Kapitälchen und Versalsatz (S. 16)“.

„YSS: Ab 1950 fingst Du mit eigenen Schreib- und Pinselschriften an: Derby, Solemnis, Boulevard, Champion, EI Greco. Welche hat in Deinen Augen heute noch Bestand?

GGL: Berthold war zu Dreiviertel ausgebombt. Es war buchstäblich nur ein Schrotthaufen da: alles verbrannt, geschmolzen. Drei, vier Schriften waren komplett brauchbar. Da hieß es dann: Wir machen zuerst Reklameschriften, die lassen sich schnell herstellen und werden fix umgesetzt, kurzes Geld. Reklame wurde früher von normalen Setzern gemacht oder von Werbeleitern, die noch aus der Pinselmentalität kamen. Das war wie: haut den Lukas, eine Mischung zwischen Marktschreier und Zirkusplakat. Das ist out, heute ist alles sophisticated, komplex. Diese frühen Schriften hatten alle in ihrer Zeit ihre Verdienste. Nach wie vor in Ordnung sind die Boulevard, Champion, EI Greco. Solemnis weniger, die hat einen gregorianischen Gesangstouch. Champion ist eine emotionale, reine Schreibpinselschrift, die läuft gut. Die Boulevard ist die feinere Tochter mit Stöckelschuhen. Seltener sieht man die Derby, die ist zu markant, zu scharfkantig. Da ist noch meine ganze Spontanität und frühe Aggressivität drin: Gleichsam Spiegelbild für Lebenseinstellung in Schrift und Wortbild. Das war mein Versuch, die Emotionalität der Civiliteschriften in eine zeitgenössische Form zu bringen. Sie ist schon in Ordnung. Aber die Arena halbfett ist immer noch eine schöne Schrift, da werf ich die Times bold weg.

Der Fotosatz brachte eine größere gestalterische Freiheit, die den kalligrafischen Schreibfluss wiedergeben konnte. Meine Berthold Script von 1977 ist ebenfalls gut, wird heute häufig verwendet, z. B. für Balsen-Kekse oder Konfiserien, für Weinetiketten“ (S. 33).